Birte Volta

Wenn in Deutschland jemand zur Gitarre greift – und zwar egal, ob männlich, weiblich, divers –, bekommt man es völlig zu Recht mit der Angst zu tun. Es bleiben nur Flucht, Totstellreflex oder Anästhesie durch zügigen Substanzmissbrauch. Selbst dann, wenn der schlimmste Kelch – das Singen in der Landessprache – an einem vorübergeht. Man ahnt: Gleich wimmert und barmt es, gleich kommt ein Dylan-Entdecker der letzten Stunde, gleich lagerfeuert es gewaltig, die Reduktion des Glücks auf jenes zu zweit – mit »ihm« oder »ihr«, gern schmerzlich vermisst – steht unmittelbar bevor, die Gefühle sind heute im Sale: Alles muss raus! Die Palette der akustischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit reicht dabei von erlösungsbedürftiger Heulsusigkeit über Schwanzrock bis hin zu Kirchentagslyrik, Elfenkitsch und faustreckendem Politengagismus. Man kann Bücher darüber schreiben, weshalb das so ist und was die fehlende deutsche Popkultur mit Romantik, Innerlichkeitsemphase, dem Wald sowie dem Ausbleiben frühzeitiger politischer Revolutionen zu tun hat.
Man kann aber auch – und das ist viel schöner – auf zwar regelbestätigende, aber umso wohltuendere Ausnahmekünstler*innen verweisen. Um eine solche handelt es sich bei Birte Volta. Sie kennt ihren Folkblues aus dem Effeff, wurde mit dem Sumpfwasser des Mississippi-Deltas getauft, schreibt viel zu selten aufgeführte eigene Songs wie das bestrickende »Winterʼs Breeze« und deutet die anderer gern akustisch aus. Die Legende, man setze sie zur Salzgewinnung ein, gehört selbstverständlich ins Reich des Mythos. Wahr ist dagegen, dass es immer mal wieder zu Heulattacken infolge emotionaler Ausnahmezustände während ihrer Shows kommt. Überliefert ist ebenfalls, dass der Alkoholisiertheitsgrad in manch schummriger Bar Rekordwerte erreichte, weil immer wieder jemand eine Runde für alle versprach, wenn die Chanteuse doch nur bereit wäre, dieses und jenes zu spielen. Sie war – ob es nun um Pink Floyds »Wish You Were Here«, Billie Eilishs »Ocean Eyes«, Patti Smiths »Because The Night«, die altüberlieferte Murder Ballad »Matty Groves« oder Spezielles von The Smiths ging. Die in der Lüneburger Heide aufgewachsene und in Hildesheim subkulturell sozialisierte Sängerin, die schon aller Herren und Frauen Länder – von Neuseeland über Australien bis hin zu England, Irland und Frankreich – durchstreifte, ist eben ein wandelndes Song Book.
Birte Volta zählt nicht zu den Weidwunden im Lande, die rehäugig mit ihrer eigenen Vulnerabilität hausieren gehen. Und so nah sie den Unterholzverwunschenheiten des folky Dreigestirns aus Vashti Bunyan, Linda Perhacs und Sibylle Baier mitunter sein mag: Die ehemalige Sängerin und Gitarristin von BM Stereo kann auch rocken. Dann stehen die Zeichen auf Strumming statt Fingerpicking. Doch so breitbeinig da auch das Innere mit »Fuck you!«-Attitüde nach außen gekehrt wird: Birtes Rock wird nicht zum authentizistischen Rockismus, sondern bleibt gebrochen, reduziert, hager, erschöpft, sich verzehrend. Eher PJ Harvey und Patti Smith als Alanis Morissette. Statt schwitzig die Sau rauszulassen, ist Birtes Ansatz eher: »Schaut mal, so würde es aussehen, wenn ich jetzt schwitzig die Sau rausließe.«
Das Schönste ist aber etwas, das sich bei fast allen großen Künstlerinnen und Künstlern beobachten lässt: die Metamorphose. Wenn der Typ oder die Typin, die einem zuvor nicht sonderlich aufgefallen sind (noch nicht einmal unangenehm!), eine Verwandlung durchlaufen, die sie plötzlich innerlich glühen und mit schlafwandlerischer Sicherheit agieren lässt. Im Fall der Singer/Songwriter-Nomadin Birte Volta, deren Angst vor Verwurzelung größer als ihre Angst vor Wurzellosigkeit ist, heißt das: Die Welt ist eine Art Exil. Zu Hause? Das ist die Bühne. Thomas Hübener